Zeitliche Analyse
Zeitliche Analyse#
Im ersten Schritt schauen wir uns die Historie unseres Korpus genauer an. Um hieraus Rückschlüsse auf die Vollständigkeit unseres Korpus ziehen zu können, möchten wir zuerst die Entwicklung des Forschungsfeldes aus wissenschaftshistorischer Sicht skizzieren.
Obwohl erste Ansätze einer strukturellen Perspektive auf gesellschaftliche Phänomene bereits im 19. Jahrhundert bei Soziologen wie Auguste Comte, Emile Durkheim oder Georg Simmel zu finden sind, datiert Freeman (2004) in seiner historiographischen Beschreibung die Ursprünge der modernen sozialen Netzwerkanalyse auf drei Startpunkte in den 1930er-Jahren: Die Begründung der Scientometrie durch den Psychiater Jacob Moreno und die Psychologin Helen Jannings, die Untersuchung von sozialen Strukturen durch eine Gruppe von Forschenden um den Anthropologen William Llyod Warner in Harvard und die Arbeit des Psychologen Kurt Lewin und seines Teams zu strukturellen Ansätzen in der Sozialpsychologie (Freeman 2011, 1f.). Von hieraus ergeben sich über die nachfolgenden Jahrzehnte verschiedene Entwicklungslinien (dargestellt in Scott 2014, S.13, ergänzt durch Jansen 2003, S. 38) in denen das Forschungsfeld stark fragmentiert und in verschiedenen Gruppen isoliert weiter entwickelt wird. Bereits hier zeigt sich der interdisziplinäre Charakter der SNA deutlich, zum einen in den prägenden Forschenden der 30er-Jahre, zum anderen durch die Einflüsse aus Sozialpsychologie, Sozialanthropologie und Industriesoziologie in den Entwicklungslinien danach (Jansen 2003).
Erst ab den 1970er-Jahren werden, durch die Gründung von Institutionen wie der INSNA unter maßgeblicher Führung von Barry Wellman, diese verschiedenen wissenschaftlichen Stränge wieder gebündelt (Freeman 2004, S. 148; S. 163f.). Durch gemeinsame Journals und Konferenzen, aber auch durch die Entwicklung von Standardwerken wie Berkowitz (1982) und Knoke & Kuklinski (1982) (Freeman 2004, S. 6) oder Wellman & Berkowitz (1988), Scott (1991) und Wasserman & Faust (1994) (Otte & Rousseau 2002, S. 446) enstand eine standardisierte Wissenschaftsdisziplin, die sogar als normale Wissenschaft nach Thomas Kuhn angesehen werden kann (Maltseva & Batagelj 2018, S. 4). In ihrer netzwerkanalytischen Betrachtung nennen Otte und Rousseau (2002, S. 444) daher erst die 1980er als Startpunkt für das Forschungsfeld der sozialen Netzwerkanalyse und verzeichnen ab hier ein starkes Wachstum in der Veröffentlichung von Publikationen.
Diese Zeit der (Neu-)Formierung wird dann durch den bereits beschriebenen Eintritt der Physik ab der Veröffentlichung von Watts & Strogatz (1998) zum small-world-Phänomen abgelöst (Freeman 2004, 164). Weitere Veröffentlichungen, u.a. Barabasi (2002) und Buchanan (2002), die sich nicht auf die Vorarbeiten der sozialen Netzwerkanalyst:innen, sondern auf die random graph models von Erdős–Rényi berufen (Scott 2014, S. 37f.), führten dann zu weiteren Veränderungen des Forschungsfeldes und, laut Lazer, Mergel & Friedman (2009), zu einer Fokussierung auf small-world-bezogene Netzwerkforschung und einem rasanten Wachstum. So hatten diese bereits fünf Jahre nach der Veröffentlichung von Watts & Strogatz bereits mehr Veröffentlichungen produziert als die sozialen Netzwerkanalyst:innen in den ganzen Jahrzehnten davor (Freeman 2011, S. 8).
Zeitgleich hat auch eine weitere Entwicklung die SNA maßgeblich geprägt: Durch die Entstehung des Internets und dadurch die Nutzung digitaler Technologien und digitaler sozialer Netzwerke entstehen immer mehr Daten, die für Analysen genutzt werden können. Diese können aufgrund der zeitgleich wachsende Rechenleistung immer besser analysiert werden (Fu et al. 2017, S. 5).
import pandas as pd
import re
# Korpus einlesen (Datei inkl. unvollständige Einträge)
corpus = pd.read_csv('corpus/corpus_all_entries.csv', low_memory = False)
# H1: Histogramm über die gesamten Publikationsjahre im Korpus
corpus.publ_year.hist(bins=100)
<AxesSubplot:>

# H2: Histogramm über die Jahre bis 1980
# Abbildung der Formierungsphase ab den 1970ern und vor dem Eintritt der Physiker:innen
bis_1980 = corpus['publ_year'] < 1980
df_bis1980 = corpus[bis_1980]
df_bis1980.publ_year.hist(bins=100)
<AxesSubplot:>

# H3: Histogramm über die Jahre bis 2010
# Abbildung der ersten Phase des Einstiegs der Physiker:innen nach Watts & Strogatz (1998)
bis_2010 = corpus['publ_year'] < 2010
df_bis2010 = corpus[bis_2010]
df_bis2010.publ_year.hist(bins=100)
<AxesSubplot:>

Die oben beschriebenen Entwicklungen lassen sich auch in unserem Korpus wiederfinden. H1 stellt die generelle Entwicklung der Anzahl der Veröffentlichungen je Jahr dar. Hier lässt sich ein exponentielles Wachstum ab kurz nach der Jahrtausendwende erkennen, was im Einklang mit dem beschriebenen rasanten Wachstum durch den Einstieg der Physiker:innen ab 1998 und dem generellen Zuwachs an wissenschaftlichen Veröffentlichungen ab dieser Zeit steht. Dies wird durch H3 bestätigt, was nur den Zeitraum bis 2010, also die ersten Jahre nach Watts & Strogatz, darstellt. Auch hier wird ein starkes Wachstum ab 2000 deutlich, was vor allem in der zweiten Hälfte der 2000er nochmals an Steigerung gewinnt. Auch in den späteren Jahren bis 2022 bricht dieses Wachstum nicht ab, was sich durch die beschriebene gesteigerten Produktion von digitalen Daten und die neuen Möglichkeiten der Analyse großer Datenmengen erklären lässt.
H2 klammert diese Entwicklung aus und betrachtet nur den Zeitraum bis 1980, also die ersten Jahre der Institutionalisierung und Standardisierung. Auch hier ist exponentielles Wachstum ab Anfang / Mitte der 1970er sichtbar, allerdings nicht in der gleichen Intensität wie ab 2000.
Eine einfache Abfrage des Minimum-Wertes ergibt, dass die früheste Publikation im Korpus aus dem Jahr 1938 stammt. Dies stimmt mit der Aussage überein, dass die Ursprünge der modernen SNA aus den 1930ern stammen.
# Früheste Veröffentlichung im Korpus
print(int(min(corpus.publ_year)))
1938
Kritisch zu betrachten hingegen, ist die Lücke an Publikationen bis zu 1960, sowie weitere Lücken in zwischen 2000 und heute bei denen für einige Jahre keine Publikationen eingetragen sind. Da die Literatur auch für die Zeit bis 1960 Forschungen und Weiterentwicklungen in der SNA beschreibt, scheint unser Korpus für diese Zeit nicht ganz vollständig zu sein. Ein erster Erklärungsansatz hierfür liegt eventuell in den verwendeten Begriffen. Da erst ab 1970 eine Standardisierung forciert wurde und bis dahin in den verschiedenen Entwicklungslinien vor allem strukturelle Ansätze vorangetrieben wurden, fallen möglicherweise frühere Publikationen durch unsere Schlagwort-Suche durch. Weiterhin könnten auch fehlerhafte Bestände in WoS an sich diese Lücken teilweise erklären, denn obwohl WoS angibt, natur- und sozialwissenschaftliche Publikationen ab 1900 abzudecken, werden Bücher und Proceedings erst ab 2005, bzw. 1990 abgedeckt (Clarivate Analytics, o.J.c).